Zeitwohlstand und das gute Leben

Astronomische Uhr PragEigentlich haben alle Menschen gleichviel Zeit. Dennoch fühlt es sich so an, als hätten einige Menschen viel davon und andere wenig.

Arbeit ist das Viertel Leben
Der Wecker klingelt. Es ist früh. Die Kleine schnell zum Kindergarten. Ins Büro. Es ist viel los. In der Mittagspause schnell einkaufen gehen. Nach Dienstschluss ab zum Kindergarten, die Kleine wartet. Nach Hause, kochen, eine Waschmaschine anschmeißen. Zu Abend essen, eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen. Eine Freundin ruft an, du gehst mit ihr zum Yoga. Später kommt noch eine Mail rein, du sitzt wieder an der Jahresabrechnung. Später schläfst du über deinem Krimi ein.
Viele von uns erfahren ihr Leben als beschleunigt. Aber woher kommt dieser beschleunigte Lebensstil? Ist es nicht so, dass uns moderne Technologien mehr Zeit zur freien Gestaltung zur Verfügung stellen? Paradoxerweise nutzen wir Zeit sparende Technologien oft dazu, die gewonnene Zeit kleinteiliger zu verplanen. Anstatt über die gewonnene Zeit zu verfügen, beschleunigt sich also unser Leben, indem wir die Pausen und Leerzeiten zwischen einzelnen Handlungen verringern oder Tätigkeiten gar zeitlich überlagern (Multitasking).
Ein Bereich, in dem sich dies besonders deutlich offenbart, ist die Arbeit. Manche Arbeit muss verrichtet werden, damit das Leben an sich möglich ist – die sogenannte reproduktive Arbeit, z.B. Kochen, Pflegen und Erziehen. Diese Arbeit wird zum großen Teil unbezahlt getan. Andere Arbeit verrichten wir, um unseren Lebensstil möglich zu machen: die sogenannte produktive Arbeit, die Erwerbsarbeit. Sowohl die reproduktive, als auch die produktive Arbeit nehmen viel unserer Lebenszeit in Anspruch. Wenn wir anfangen wollen, mit unserer Zeit anders umzugehen, ist der Bereich der Arbeit ein guter Ansatzpunkt.

Ohne Arbeit ist alles nichts. Oder: Freizeit muss sich wieder lohnen
Du stehst morgens auf, frühstückst, machst deinen morgendlichen Spaziergang. Zurück zu Hause fragst du dich, wie du den Tag verbringst. Nach 20 Jahren im Betrieb musst du dich erst daran gewöhnen, keinen klar gegliederten Tagesablauf zu haben. Im Fernsehen lässt du die Talkshow laufen, während du Staub wischst im Regal – das gar nicht wirklich staubig ist. Du schaust nochmal in den Briefkasten. Das Arbeitsamt fordert dich auf, die nächsten 6 Wochen für die städtische Grünarbeit zu arbeiten. Eine Qual für deinen Rücken. Aber besser als Langeweile. Gehst irgendwann zu Bett, noch gar nicht richtig müde. Du fühlst dich, als hättest du etwas grundlegend falsch gemacht in deinem Leben.
Während bei Menschen, die viel arbeiten, oft ein Gefühl von Zeitknappheit entsteht, unabhängig davon, ob ihre Tätigkeit bezahlt ist oder unbezahlt, nützlich oder nicht, ist für andere ein Überschuss an freier Zeit eine Belastung. Eigentlich kann es nicht sein, dass die Verteilung von Zeit ungleich ist, denn für alle Menschen hat der Tag 24 Stunden. Ungleich ist aber, wie wir diese Zeit erleben. Dieses Empfinden ist individuell. Eine Komponente, von der es abhängt, ist der Grad, indem Menschen selbst über ihre Zeit bestimmen können. Solange Einkommen an Erwerbsarbeit gebunden ist, wird zu viel freie Zeit ein Problem. Nur, wenn meine Existenz gesichert ist, kann ich mir überlegen, wie ich meine Lebenszeit verbringe. Diese Art der Selbstbestimmung braucht mündige, verantwortungsbewusste Menschen. Eine Entkopplung von Arbeit und Einkommen – erreichbar etwa durch ein bedingungsloses Grundeinkommen – bräuchte deswegen ein gutes, offenes Bildungssystem. Es wäre eine radikale Veränderung der Gesellschaft – für viele schwer vorstellbar.

Teilzeit als neue Vollzeit
Was leichter denkbar und ebenfalls sehr effektvoll wäre, ist die radikale Kürzung der Erwerbsarbeitszeit. Teilzeit als neue Vollzeit, bei Löhnen, die so hoch sind, dass alle gut von ihrer Arbeit leben können. In einer Gesellschaft mit beständig wachsender Produktivität, struktureller Arbeitslosigkeit und wachsender sozialer Ungleichheit ist Umverteilung ist nicht nur möglich sondern erforderlich. Arbeit und Einkommen können gerecht geteilt werden:

Zeitwohlstand: Ein gutes Leben für alle
Du stehst früh auf. Läufst zur Teilautostation, um mit deinen Nachbarinnen zum Rathaus zu fahren. Morgen wird im Bürgeramt über die Nutzung einer alten Fabrik abgestimmt, die
geschlossen wurde, weil ihre Produkte von der Gemeinde nicht mehr gewünscht wurden. Ihr habt einen Vorschlag zur umweltgerechten Abtragung der Gebäude ausgearbeitet. Nachmittags gehst du ins Pflegeheim, in dem du Vollzeit angestellt bist. 2,5 Tage die Woche arbeitest du dort. Die Kollegin, die du ablöst, grüßt dich freundlich. Ihr habt den Schichtplan für das Jahr gemeinsam erstellt. Du bist dankbar, dass ihr euch die Tage der Woche so teilt, dass du viel Zeit mit deiner Familie verbringst.
Zeitgestaltung ist eine Herausforderung. Nicht nur eine persönliche, sondern eine, der sich die Gesellschaft stellen muss. Wenn wir Zeitwohlstand wollen, müssen wir gemeinsam eine Debatte über Zeit führen. Es gibt gute Gründe Zeit anders zu nutzen. Die Art und Weise, wie wir es gerade tun, ist nicht unveränderlich. Was normal ist, bestimmen die Menschen. Einfach ist es nicht, einen so weitreichenden gesellschaftlichen Bereich zu verändern. Wenn wir uns dieser Aufgabe annehmen, müssen wir sorgfältig darauf achten, nicht das Ziel aus den Augen zu verlieren: Ein gutes Leben für alle Menschen.

Quelle: Lena Kirschenmann und Felix Wittmann, Konzeptwerk Neue Ökonomie

(Quelle: Diözese Linz)

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